Die Literarische Gesellschaft "Der Osten"
„Literarische Gesellschaft der Osten“ hieß jene bedeutende literarische Vereinigung, die im Jahre 1859 als „Verein Breslauer Dichterschule“ gegründet worden war. Die Erste Dichterschule war unter Martin Opitz, die Zweite schwülstig-barocke unter Hofmann von Hofmannswaldau und Caspar David Lohenstein gebildet worden. Im Jahre 1847 erschienen die „Monatsblätter des Vereins Schlesische Dichterschule“, die nach sechzig Jahren, im Jahre 1934, letztmalig als Festschrift zur Feier des fünfundsiebzigjährigen Bestehens publiziert wurden, zugleich als Festschrift für das Ehrenmitglied Hermann Stehr, der siebzig wurde. Zu Mitgliedern zählten Paul Barsch und dessen Witwe Maria Barsch, aus deren Hand ich Mitte der fünfziger Jahre den nach ihrem Mann benannten Novellenpreis erhielt.
Es gehörten dazu Philo vom Walde, Paul Keller, Carl Biberfeld, Freund Walter Meckauer und der über drei Jahrzehnte in diesem Kreis wirkende Alfred Feige. In den Bänden der Zeitschrift waren so unterschiedliche Köpfe, wie Reinhold Conrad Muschler und Paul Mühsam, Oskar Maria Fontana und Max Brod, Richard Dehmel und Otto Julius Bierbaum vertreten. Es schrieben darin Gräfin Eufemia von Ballestrem und Fritz Ernst Bettauer, den wir am Sender Breslau erlebten, Johannes R. Becher, wie Eduard Engel („Grundfragen der Literatur“), Max Herrmann-Neisse wie Kurt Hiller. Auch Gustav Hexelschneider, der Ende der dreißiger Jahre zusammen mit Hanns Gottschalk, Günter Jörchel, Roland Ring, Kottusch und Wolfgang Schwarz der Gesellschaft angehörte, sind im letzten Heft der Zeitschrift (1934) vertreten, wie der spätere Vorsitzende Dr. Klimpel (mit einem Nachruf auf den im Breslauer Gesangsleben sehr bekannten uns verdienten Rektor Felix Janoske 1928), ferner die als Gast der Wangener Gespräche oft begrüßte Ilse Reicke, welche über Carl Hauptmann schrieb, der Oberschlesier Albert Nowinski, dessen Gedichtbändchen „Das Denkmal“ im Jahre 1936 erschien.
Das Wort von „Schlesien, Land der 666 Dichter“ ist bekannt, - Spötter bemerkten dazu, dass davon mindestens 600 Lehrer gewesen sind, die immer eine besondere Beziehung zur Dichtung zu haben meinten. Viele wären zu nennen. Ehrenmitglied der Gesellschaft war u. a. Theodor Loewe, Direktor der Vereinigten Breslauer Theater; von weiteren Mitarbeitern denke ich an Robert Kurpiun, Franz Landsberger, Rober Sabel (1900), Ernst Schenke (1930), den Nachbarn von Paul Barsch in Schieferstein am Zobten, der als Herausgeber des „Gemittlichen Schäsinger“ die Mundart pflegte. Prinz Emil von Schönaich-Carolath (zu Anfang des Jahrhunderts wiederholt vertreten), Werner Milchs Beitrag zum 70. Geburtstag Gerhart Hauptmanns im Jahre 1932, und Beiträge Ilse Langners seien ebenso wenig vergessen wie die Breslauer Vortragskünstlerin Dora Lotti Kretschmer, auch sie Anfang der fünfziger Jahre meiner Einladung nach Wangen folgend, und Alexander Kirchner, Verfasser von Gedichten und Legenden der schlesischen Hauptstadt, (er war einige Jahre Vorsitzender und bekannt durch seine umfangreiche Tätigkeit im Spitzerschen Gesangverein, dessen Chor er auch ein Orchester attachierte), ferner Christopf Kaergel, wie der Herausgeber der Oberschlesien-Anthologie Hugo Kegel. Dem so liebenswerten Privatdozenten Dr. Waldemar von Grumbkow, der seit 1920 ständig an der Zeitschrift mitwirkte, und der neben seinen Versen durch kulturpolitische Beiträge im Rundfunk und an der Breslauer Volkshochschule bekannt wurde, habe ich an anderer Stelle ein Blatt herzlichen Gedenkens gewidmet. Über sechs Jahrzehnte Lit-Ges. Der Osten in ihrer Zeitschrift junge schlesische Autoren mit Repräsentanten deutscher Dichtung zusammen geführt. „Es gibt gewiss nicht viele Vereinigungen, die eine vornehme literarische Zeitschrift sechs Jahrzehnte durchzuhalten vermochten. Als die „Arbeitsgemeinschaft Breslauer Schriftsteller“ gegründet wurde, ging die Osten-Vereinigung in ihr auf und diese im „Schlesischen Dichterkreis“ bzw. der Schlesischen Gesellschaft für Schrifttum. Daß in den Zusammenkünften der Mitglieder neue Dichtungen gelesen und von ihnen zu Aussprache gestellt wurden, blieb auch in diesen Vereinigung beigehalten“ (Alfred Feige). Die Gesellschaft der Literaten Breslau in dem aus den Freiheitskriegen bekannten Gasthof „Zum Goldenen Zepter“ auf der Schmiedbrücke, indessen die Gesellschaft der Kipkebiertrinker im unteren Stockwerk sich an Eisbein mit Sauerkraut labte. Sie ahnten nicht, welch idealistischen Anrufe, welch pathetischen Verse, welcher rauschvolle Dichteranfang in der ersten Etage den halbleeren Raum erfüllten. Nicht einmal durch das Alter, geschweige durch ihren Habitus unterschieden sich die Bürger des Universitätsviertels von den Literaturbeschwingten. Nichts konnte hinweg täuschen, daß diese Seancen eine Fülle von Gedanken und Anregungen verstreuten, aus denen die engagierte Nutzen ziehen, die Randfiguren das Gespür zu haben meinten, unmittelbar an Schlesiens Olymp, zumindestens an seinen untersten Stufen, gesessen zu haben.
Manche phantastische Erwartung wurde hier von der zum Glück meist rücksichtslosen Kritik weggedonnert, aber auch manche geäußerte Hoffnung zu weiteren Versuchen ermutigt. Grumbkow vertrat die konziliante, Roland Ring, seines Zeichens Breslauer Stadtinspektor, die unerbittliche Seite. Wenige wurden im „Goldenen Zepter“ zu Dichtern gekürt, manchen wurde das Zepter der Dichtung aus der Hand genommen. Wer mit vorsichtigem Lob entlassen wurde, konnte sich glücklich preisen.
Aus: Egon H. Rakette, Im Zwielicht der Zeit. Unter Literaten und Präsidenten. Erlebnisse-Erfahrungen-Ansichten aus fünfundsiebzig Jahren. Grafische Blätter: Alfred Georg Seidel. Heidenheim/Brenz 1985.